Umfragewerte in Deutschland: Wie zuverlässig sind sie?
Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021 läuft langsam an. Die Fronten zwischen den Koalitionspartnern Union und SPD beginnen sich zu verhärten, erste Personalentscheidungen werden getroffen und die Wahlprogramme werden von den jeweiligen Programmkommissionen vorbereitet. Die Popularität der jüngsten Entscheidungen und Auftritte ihrer Vertreterinnen und Vertreter spiegeln sich im Vorfeld der Wahlen am besten in Umfragewerten wider. Aus diesem Grund wird in Deutschland seit 1949 regelmäßig und von verschiedenen Instituten die Sonntagsfrage gestellt, um Trends und das aktuelle Meinungsbild in der Bevölkerung feststellen zu können.
Umfragewerte im Vorfeld zu Wahlen sind jedoch stets mit Vorsicht zu genießen – spätestens seit den US-Präsidentschaftswahlen 2016, als diese den falschen Wahlausgang vorhergesagt hatten. Ein prominentes Beispiel: In den USA bescheinigte das Statistikportal FiveThirtyEight am Tag der US-Präsidentschaftswahl 2016 der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton eine 71,4-prozentige Siegeswahrscheinlichkeit gegenüber ihrem republikanischen Kontrahenten. Im selben Jahr, bei der Brexit-Abstimmung, prognostizierte ein Großteil der Umfrageinstitute einen knappen Sieg der EU-Anhänger. Beide Vorhersagen traten nicht ein und einer der Verlierer dieser beiden Abstimmungen war die Glaubwürdigkeit der Umfragen.
Doch wie sieht die Situation in Deutschland aus? Können wir den Werten der demoskopischen Institute hierzulande glauben und damit verlässliche Vorhersagen für Mehrheitsverhältnisse und mögliche Koalitionen nach der Bundestagswahl in diesem Jahr treffen?
Wahlumfragen in Deutschland sind einfacher
Bei der letzten Bundestagswahl 2017 waren die führenden Demoskopen mit ihren Umfragewerten relativ genau. Die durchschnittliche Varianz betrug bei allen relevanten Parteien 1,3 Prozent – nur bei der Union lagen die Umfragen 3 Prozentpunkte höher als das effektive Wahlergebnis. 2013 waren die Prognosen noch genauer – damals lag die durchschnittliche Varianz bei 0,8 Prozent, 2009 bei 1,0 Prozent.
Keine Umfrage kann jemals das tatsächliche Meinungsbild der Grundgesamtheit perfekt abbilden. Daher ist jede Stichprobe zu einem gewissen Prozentsatz fehlerbehaftet. Stichproben von ungefähr 2.000 Befragten weisen eine Fehlertoleranz von bis zu drei Prozentpunkten auf – bei der Sonntagsfrage werden durchschnittlich 1.000 Personen nach ihrer Wahlabsicht befragt. Als Faustregel lässt sich festhalten: Je größer die Stichprobengröße und je höher der Anteilswert des untersuchten Gegenstandes (in diesem Beispiel: der Umfragewert einer Partei), desto größer die Fehlertoleranz.
Einer der Gründe dafür, dass die letzten Umfragen zu den Bundestagwahlen in Deutschland genauer waren als beispielsweise die im Vorfeld der vergangenen amerikanischen Präsidentschaftswahl, ist, dass der Markt für Umfragen in der Bundesrepublik weniger stark umkämpft ist. In den USA konkurrieren neben herkömmlichen Meinungsumfrageinstituten auch Universitäten und Medienanstalten um Gehör für ihre Werte. In Deutschland gibt es weniger Akteure im Wettbewerb, weshalb diese mehr Zeit für ihre Umfragen haben, was sich in einer größeren Anzahl an Befragten und einer genaueren Analyse auswirkt. Je größer der Stichprobenumfang, desto größer die Schätzgenauigkeit.
Darüber hinaus können in Deutschland vor einer Bundestagswahl aufgrund des personalisierten Verhältniswahlsystems Wahlumfragen akkurater durchgeführt werden als bei Präsidentschaftswahlen in den USA, wo das Electoral College deutlich komplexer und daher schwieriger vorhersehbar ist. Zudem ist das Elektorat in den USA heterogener, weshalb die Mobilisierung von bestimmten demographischen Gruppen eine Wahl kurzfristig stärker beeinflussen kann und präzise Vorhersagen zusätzlich erschwert.
Aufgrund des Mehrparteiensystems in Deutschland und des Zweiparteiensystems in den USA ist die elektorale Volatilität – die Veränderung der Machtverhältnisse der Parteien aufgrund von wechselhaftem Wahlverhalten zwischen zwei Abstimmungen – hierzulande dagegen größer. Insbesondere die 2013 neu gegründete AfD hat dazu beigetragen, dass diese bei den letzten Wahlen nochmal deutlich gestiegen ist. Daher sind Langzeitmodelle, um das Wahlverhalten in Deutschland feststellen zu können, schwierig zu erstellen und verlässliche aktuelle Umfragen umso wichtiger.
Im Hinblick auf die Bundestagswahl am 26. September 2021 können wir uns wohl auf die Demoskopen verlassen – natürlich immer mit einer gesunden Prise des kritischen Hinterfragens. Spätestens ab der heißen Phase des Wahlkampfs im Spätsommer können „Politiknerds“ Umfragewerte wieder dazu nutzen, um in Gedankenspielen mögliche Koalitionsmodelle zusammenzubasteln und über die potenzielle Zusammensetzung des Deutschen Bundestages sowie die Machtarithmetik in der Bundesregierung der nächsten vier Jahre zu philosophieren.
Blog zur Bundestagswahl 2021 und weiterführende Beiträge